Autohersteller und -zulieferer wie Audi, Daimler und Continental wollen sich neu erfinden: als Digital Car Companies, die nicht mehr nur Autos verkaufen, sondern auch digitale Dienstleistungen. Doch auf dem Weg zu diesem Geschäftsmodell spielen auch viele andere Branchen eine wichtige Rolle.
Die freundliche Stimme meldet sich aus dem Türlautsprecher: „Auf Ihrer geplanten Route liegen 50 Kilometer ohne Geschwindigkeitsbeschränkung. Wollen Sie für heute zusätzliche 50 PS freischalten? Dafür würde eine Gebühr von nur 3,99 Euro anfallen.“ Der Fahrer, der es sich auf seinem bequemen Sitz in seinem automatisch gesteuerten Auto gemütlich gemacht hat, schreckt aus dem Halbschlaf hoch und murmelt leise „Ja“.
Die weibliche Computerstimme quittiert sofort. „Vielen Dank, der Betrag wurde von Ihrem Kundenkonto abgebucht. Dürfen wir Sie noch auf unser Sonderangebot hinweisen? Heute können Sie für nur einen Euro die Massagefunktion an Ihrem Sitz aktivieren. Der reguläre Preis liegt bei 2,50 Euro…“ Ungeduldig unterbricht der Fahrer die synthetische Stimme. „Nein danke!“ Sofort verstummt die Ansage. Der Autoinsasse lehnt sich zurück und ist wenige Sekunden später wieder eingenickt.
Wertschöpfung mit digitalen Dienstleistungen
Ein Bericht aus der fernen Zukunft? Nicht unbedingt. Denn viele Autohersteller denken darüber nach, ihr Geschäftsmodell in den kommenden Jahren zu verändern: weg vom Einmal-Verkauf des Fahrzeugs, hin zu einer Wertschöpfung, bei der digitale Dienstleistungen immer wichtiger für den Umsatz werden. „Unser Kunde könnte dann einzelne Features nach Wunsch und auch nur zeitweilig freischalten und bezahlt dafür nach Bedarf“, spekulierte Rupert Stadler, Vorstandsvorsitzender von Audi , vergangenes Jahr im Interview mit der Fachzeitschrift „auto, motor und sport“. Intern haben die Ingolstädter schon ein Umbauprogramm gestartet, mit dem Ziel, bis 2025 zu einer „Digital Car Company“ zu werden. Erfolg soll bald nicht mehr nur in verkaufter Stückzahl gemessen werden, sondern immer mehr auch in digitalen Umsätzen.
Unser Kunde könnte dann einzelne Features nach Wunsch und auch nur zeitweilig freischalten und bezahlt dafür nach Bedarf.
Autofenster öffnen im Abonnement
Doch was steht am Ende dieser Transformation? „Vielleicht das Spotify-Auto“, sagt Christian Hoffmeister . Der Hamburger Buchautor ist Experte für digitale Geschäftsmodelle. Die Idee vom Spotify-Auto kam ihm in einem Workshop mit Managern aus der Autoindustrie. Der Internetdienst spielt Musik zunächst gratis ab – nur eben in einer zufälligen Auswahl. Wer ein bestimmtes Stück hören will, muss ein Abonnement kaufen. Warum macht es die Autoindustrie nicht genauso, fragte sich Hoffmeister. „Um jedes Teil, das einen Sensor hat, kann man eine Leistung bauen.“
Im Extremfall könnte das bedeuten: Der Fahrer kann das Autofenster in der Basisversion nur ganz oder gar nicht öffnen, wenn er Zwischenschritte will, muss er zahlen. „Zusätzliche PS wären so auch möglich“, sagt Hoffmeister. Technisch ist das machbar, schließlich bieten die Hersteller aus Kostengründen oft Motorvarianten an, die sich allein in der Steuerungselektronik unterscheiden. Wie viele PS ein Aggregat liefert, bestimmen ein paar Bytes. Mehr Kraft unter der Haube ließe sich also leicht als Download verkaufen.
Freemium als Zukunftsstrategie
Upselling könnte das Zauberwort in der Autoindustrie bald lauten. Man verkauft oder vermietet dem Kunden ein minimal ausgestattetes Fahrzeug und lässt ihn alles andere dazubuchen, genau wie bei den Discountfliegern, wo Beinfreiheit, Sandwich und Zusatzgepäck schon lange extra kosten. Experte Hoffmeister kann sich sogar vorstellen, dass einige Hersteller künftig das sogenannte Freemium-Modell fahren. Das Wort – eine Kombination aus Free und Premium – beschreibt eine Strategie, die Unternehmen wie Google oder Dropbox, aber auch Verlage perfektioniert haben: Die Kunden bekommen das Basisprodukt umsonst und werden erst zur Kasse gebeten, wenn sie mehr haben wollen.
„Vieles könnte in Zukunft auf Pay-per-use-Basis umgestellt werden“, sagt Werner Köstler, Senior Vice President bei Continental . Die Zulieferer steuern heute schon – gemessen am Wert – 70 Prozent zu einem Markenfahrzeug bei und müssen die technischen Grundlagen für die digitalen Geschäftsmodelle von morgen liefern. Im Fall von Continental könnte das zum Beispiel so aussehen: Anstatt dem Kunden für 500 Euro einen Reifen zu verkaufen, vermietet das Unternehmen ihn für fünf Cent pro hundert Kilometer.
Der Hersteller überwacht aus der Ferne den Druck im Pneu, dessen Temperatur sowie die Laufleistung und kümmert sich proaktiv um Ersatz, falls sich ein Problem andeutet. Das ist keine abgehobene Vision, sondern Realität. Mit Pilotfirmen aus dem Nutzfahrzeugbereich testet Continental einen solchen Service bereits. „Für den Kunden hat das den Vorteil, dass ihm keine Kosten entstehen, wenn gerade kein Auftrag vorliegt und das Fahrzeug steht“, so Köstler.
Vieles könnte in Zukunft auf Pay-per-use-Basis umgestellt werden.
Digitale Zusatzdienste nicht das Allheilmittel
Doch es gibt Skeptiker, die nicht an eine Dominanz der digitalen Mini-Umsätze glauben. „Der wichtigste Wertbeitrag ist das physikalische Objekt Auto. Es wird der Kern bleiben“, sagt Alexander Mankowsky, Zukunftsforscher bei Daimler . Er bezweifelt, dass Zusatzdienste allein das Geschäftsmodell der Zukunft sind. „50 Cent, um die Sitzheizung anzuschalten – das ist nicht Premium, das ist nicht Daimler“, so Mankowsky. Seiner Ansicht nach wird das Digitale momentan überbewertet. „Facebook, Netflix, Smartphones – das ist die Gegenwart, nicht die Zukunft. Ich spüre, dass die Realität des Lebens, die Sinnlichkeit, wieder ins Zentrum rückt.“
Mercedes-Benz lege darauf mit dem Markenansatz der „sinnlichen Klarheit“ von jeher viel Wert. Die Hersteller würden auch in Zukunft vor allem Produzenten realer Dinge sein. Allerdings müssten die Fahrzeuge nicht notwendigerweise verkauft werden. Mankowskys Vision: In Zukunft bucht der Kunde ein Auto, das zu seinen Bedürfnissen passt – sei es ein rollendes Büro oder das Urlaubsauto mit Spielmöglichkeiten für die Kinder.
Und bis das Spotify-Auto kommt, dürfte es noch ein bisschen dauern. Denn um den Kunden digitale Dienstleistungen verkaufen zu können, müssten die meisten Hersteller erst mal eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Und die besteht derzeit nicht. Oft wissen die Autobauer nicht einmal, wer ihr Kunde ist. Wenn er gerade einen Neuwagen gekauft hat, kennt man ihn vielleicht noch, aber spätestens nach dem ersten Weiterverkauf zerbricht die Verbindung. Wer dann hinterm Steuer sitzt, bleibt unbekannt. Da hilft es auch nicht, dass im Jahr 2018 – so eine Prognose von Continental – neun von zehn Autos über ein Mobilfunkmodul mit dem Internet verbunden sind.
Amazon und Apple beherrschen die Digitalisierung
Hinzu kommt, dass die Dickschiffe der Branche keine Erfahrung darin haben, ihr Geld mit Nullen und Einsen zu verdienen. Sie wären gar nicht in der Lage, die zusätzlichen 50 PS oder fünf Grad Zusatzkühlung abzurechnen, denn dafür müssten sie jeden Tag Millionen von Kleinsttransaktionen verarbeiten. Mit so etwas kennt man sich in München, Ingolstadt und Stuttgart schlichtweg nicht aus. In Seattle oder Cupertino dagegen schon. Pioniere wie Amazon oder Apple haben einen ganz anderen Überblick über die Digitalisierungsmechanismen: Sie pflegen eine enge Beziehung zum Kunden, kennen haarklein seine Vorlieben und haben jahrelange Erfahrung mit dem Verkauf digitaler Produkte.
Im Gegenzug drängt sich die Frage auf: Warum bringt Amazon kein eigenes Auto auf den Markt? Für die Kunden wäre das ziemlich bequem: Sie könnten einfach einsteigen, sich mit E-Mail-Adresse und Amazon-Passwort anmelden und mit einem weiteren Klick das Laser-Fernlicht für die Nachtfahrt dazubuchen. Neben Musik und Filmen wäre das nur ein weiteres Produkt im unendlichen Amazon-Sortiment. Experte Hoffmeister hält dieses Szenario nicht für unwahrscheinlich. „Firmen wie Apple und Amazon haben bei Software und Künstlicher Intelligenz die Nase so weit vorne. Theoretisch könnten sie das bessere Auto bauen.“
Apple: Einstieg in die Autoindustrie?
Der lästige Rest – Räder, Motor, Karosserie – ließe sich zukaufen. Wie einfach das wirtschaftlich wäre, zeigt eine kleine Randnotiz aus dem vergangenen Jahr. Im September waren Gerüchte aufgetaucht, Apple wolle die Sportwagenschmiede McLaren übernehmen. Das war an sich nicht bemerkenswert, zumal alle Seiten prompt dementierten. Aufschlussreich dagegen war die kolportierte Kaufsumme: Angeblich hatte der iPhone-Macher umgerechnet 1,74 Mrd. Euro für den Sportwagen-Adel geboten. Peanuts für einen Konzern, der auf Bar-Reserven in Höhe von rund 200 Mrd. Dollar sitzt. Der Einstieg in die Autoindustrie wäre für Apple finanziell nur eine Randnotiz gewesen.
Daimler-Zukunftsforscher Mankowsky mahnt dennoch, die Konkurrenz aus dem Silicon Valley realistisch einzuschätzen. „Technologieunternehmen haben ziemliche Probleme, wenn es darum geht, physische Produkte herzustellen.“ Außerdem seien die Ansprüche an ein Smartphone niedriger als an ein Fahrzeug. „Wenn das Auto nicht funktioniert, akzeptieren die Kunden das nicht so schnell.“ Er sieht – wie Daimler-Chef Zetsche – die Technologiekonzerne in der Rolle von „Frenemies“ (eine Mischung aus Friends und Enemies). Sie könnten Kooperationspartner sein, wenn es darum geht, Innovationen wie autonomes Fahren voranzutreiben. Doch das Fahrzeug selbst müsse weiterhin von Daimler kommen, hier seien die Technologiefirmen – sollten sie in den Markt einsteigen – schlichtweg Gegner.
Technologieunternehmen haben ziemliche Probleme, wenn es darum geht, physische Produkte herzustellen.
Privatkunden nicht unbedingt im Fokus
Eine wichtige Frage müssen die Autogiganten in jedem Fall klären: Wer soll überhaupt Kunde der Digital Car Company sein? Vermutlich nicht die Privatleute, schließlich gehen schon heute zwei von drei Fahrzeugen an Autovermieter, Unternehmen oder Carsharing-Dienste. Und dieser Flottenanteil wird in den kommenden Jahren weiter steigen, da sind sich Experten einig. Nicht nur Fahrdienste wie Uber, sondern auch Städte könnten bald auf der Kundenliste stehen. „In Zukunft muss sich eine Metropole vielleicht entscheiden, ob sie eine U-Bahn baut oder vielleicht lieber ein paar Tausend autonome Autos kauft“, gibt Continental-Manager Köstler als Beispiel.
Er hat generell Zweifel daran, dass zusätzliche PS oder andere Zusatzdienste, die ein besseres Fahrgefühl versprechen, in der Mobilitätswelt von morgen noch gefragt sind. „Das klingt vielleicht ein bisschen deutsch: Aber in Zukunft zahlen die Autonutzer eher eine Prämie dafür, pünktlich anzukommen“, sagt Köstler. Sprich: Nicht mehr für die Massagefunktion im Sitz wird zur digitalen Geldbörse gegriffen, sondern für einen Platz auf der schnellen Stadtautobahn-Spur. Oder für die grüne Welle, als Download im Abo.
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