Hinsichtlich neuer Technologien wähnten sich Anwälte lange unersetzbar. Die rasante Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz und das Aufkommen cleverer Start-ups haben diesen Glauben ins Wanken gebracht. „Legal Tech“ ist auf dem Vormarsch, Kanzleien werden digital und neue Geschäftsmodelle entstehen.
Nein, Krawatte trägt er nicht. Aber seine Schnelligkeit und seine Arbeitsbereitschaft rund um die Uhr wiegen das locker auf. Erst vor eineinhalb Jahren eingestellt, hat sich Junganwalt Ross in der Konkursabteilung am New Yorker Standort der Großkanzlei Baker & Hostetler schon unentbehrlich gemacht. Dabei braucht er nicht mal einen Schreibtisch, denn Ross sitzt in der „Cloud“ und wartet auf die Sprachbefehle seiner menschlichen Kollegen. Der erste Anwaltsroboter ist genau genommen nur eine Software, aber was für eine: Sie wühlt sich durch Berge von Gesetzen, Urteilen, Verträgen, Anträgen und Notizen, um alle relevanten Unterlagen für den aktuellen Fall zusammenzustellen. Mit jedem Auftrag lernt Ross dazu und wird noch besser. Basis ist die Watson-Technologie von IBM, die schon 2011 in der US-Quizshow „Jeopardy“ zwei menschliche Champions ausschaltete. Da war eigentlich klar: Wir müssen uns warm anziehen. Und jetzt zieht die künstliche Intelligenz also in die Anwaltskanzleien ein.
Die Digitalisierung ersetzt keine echte anwaltliche Tätigkeit, sondern allenfalls Routinearbeiten. – Markus Hartung
Überraschend ist das nicht. Anwälte arbeiten mit Unmengen von Akten – sprich: Daten – und in der Branche ist viel Geld unterwegs. Dazu kommen bei den großen Wirtschaftskanzleien Kunden, die seit der Finanzkrise ab 2008 äußerst kostenempfindlich agieren und oft nicht mehr bereit sind, Stundensätze von rund 300 Euro für standardisierte Routinearbeiten zu zahlen. Mehr als 650 „Legal Tech “-Unternehmen zählt der einschlägige Blog „Law Sites“ inzwischen weltweit. Schrittmacher sind Kanzleien in den USA, wo rechtliche Besonderheiten wie „Full Disclosure“ oder „Due Dilligence“ vor Vertragsabschlüssen das Durchforsten riesiger Datenmengen verlangen. „Früher hätten das Scharen von jungen Anwälten in nächtelangen Sonderschichten erledigt, heute lässt man da eine E-Discovery-Software drüberlaufen“, sagt Markus Hartung vom Bucerius Center on the Legal Profession in Hamburg und nennt als markantes Beispiel gleich den VW-Dieselskandal. „Da geht es darum, wer was wann gewusst oder angeordnet hat“, erklärt der Anwalt. „Die entscheidenden Informationen müssen Sie aber erst mal in Millionen Datensätzen finden.“
Digitale Rechtshilfe: Gestatten, Ross und Kira!
Da kommt dann also digitales Hilfspersonal ins Spiel wie Ross oder seine kanadische Kollegin Kira zum Beispiel. Die Software analysiert in der Großkanzlei CMS Hasche Sigle etwa Verträge und stellt die Ergebnisse dann einem der Anwälte zur Verfügung, der damit weiterarbeitet. Die Programme fungieren also wie Assistenten.„Wir mussten das Programm in deutscher Sprache anlernen“, erklärt Tobias Heining, der den Bereich Geschäftsentwicklung, Marketing und Kommunikation leitet. „Dafür brauchen Sie zunächst mehrere Hundert Vertragsklauseln, später lernt Kira dann im Rahmen der Nutzung selbst weiter.“ Mehrere Programmierer hat die Kanzlei extra dafür angestellt. CMS hat schon 2014 ein eigenes Team für digitale Produkte aufgebaut und gehört damit zu den Vorreitern der Branche. Mit Erfolg: Inzwischen verwendet die Kanzlei nicht nur intern die Kira-Software und eine zweite namens HotDocs zum Erstellen standardisierter Verträge, etwa bei der Gründung einer GmbH.
Früher waren es Junganwälte, heute durchsucht Software die Datenmassen (Bild: iStock.com/Cecilie_Arcurs)
Heining und seine Kollegen haben mittlerweile auch vier Produkte entwickelt, die sie ihren Mandanten anbieten. Eines davon heißt FPE und liefert Unternehmen nach einem onlinebasierten Fragenkatalog eine schnelle Einschätzung, ob der Einsatz von Fremdpersonal im aktuellen Fall rechtlich einwandfrei oder aber riskant ist. Der Mandant zahlt pro abgefragtem Fall und spart dabei bis zu 75 Prozent der Kosten, die er für eine händische Überprüfung durch Anwälte zahlen müsste. Tobias Heining sieht da ein großes Geschäftsmodell für die Zukunft: „Das Thema Fremdpersonal ist ja nur ein Beispiel für eine ganze Bandbreite von Risikomanagement-Herausforderungen, die unsere Mandanten haben – sehr arbeitsaufwendig, aber eigentlich leicht lösbar, weil standardisierbar.“
Informationen aus Verträgen herauslesen. Dafür brauchen Sie kein juristisches Studium. – Micha-Manuel Bues
Für die Kanzlei heißt das, sie wird auch zum Software-Anbieter und muss plötzlich Fragen klären wie: Wie binden wir solche Tools in unsere Anwaltsarbeit ein? Wie berechnen wir die dem Mandanten? Wie vermarkten wir die? „Da sind wir in einem sehr spannenden Lernprozess, und die Lernkurve war steil in den vergangenen Jahren“, sagt der CMS-Mann. Aber wohin führt das? Was passiert zum Beispiel mit den Scharen von jungen Anwälten, denen Ross und Kira möglicherweise die Arbeit wegnehmen? In einer Studie der Bucerius Law School wird die These aufgestellt, dass 30 bis 50 Prozent ihrer Aufgaben zukünftig durch Software übernommen werden könnten. Die bisherige Pyramidenstruktur von Großkanzleien – oben wenige Partner, unten viele Associates – werde sich unten deutlich verschlanken. Nicht weniger Mitarbeiter würden die Platzhirsche beschäftigen, aber weniger Anwälte, stattdessen etwa IT-Fachleute, Projektmanager, Marketingexperten. „Die Digitalisierung ersetzt keine echte anwaltliche Tätigkeit, sondern allenfalls Routinearbeiten, die bislang unnötigerweise von Anwälten erledigt wurden“, ist Markus Hartung überzeugt. Micha-Manuel Bues, Geschäftsführer des Berliner Start-ups Leverton , das ebenfalls ein Vertragsanalyse-Programm entwickelt hat, pflichtet dem bei: „Nehmen Sie das, was unsere Software tut: Informationen aus Verträgen herauslesen. Dafür brauchen Sie gesunden Menschenverstand, aber doch kein juristisches Studium.“
Kanzleien online: Mehr Geschäftsmodelle, neue Akteure
Mit Blick auf die Praxis wischt Heining Zukunftsängste vehement zur Seite: „Wir haben nicht weniger Arbeit durch die digitalen Produkte, sondern viel mehr, weil wir speziell dank der FPE-Software zum Beispiel große Projekte gewonnen haben“, betont er. Andere, wie Markus Hartung, weisen auf die neuen Geschäftsmodelle hin, die die Digitalisierung bietet: Auch ein einzelner Anwalt aus der Provinz könne dank Plattformen wie Anwalt.de bundesweit seine Dienste anbieten oder auch auf seiner Homepage Rechtsinformationen gegen Bezahlung offerieren. „Wichtig ist, dass man die Kunden da abholt, wo sie sind, wie man heute so schön sagt – daheim auf dem Sofa zum Beispiel. Wer will schon zu einem Anwalt in die Kanzlei gehen?“ Genauso argumentiert Leverton-Chef Bues: „Kleine Generalisten-Kanzleien werden in Zukunft massive Probleme bekommen“, glaubt er. Eine digitalisierte Büroführung sei inzwischen selbstverständlich. Aber der Anwalt müsse sich auch besser auf die Wünsche der Kunden einlassen, Festpreise anbieten zum Beispiel, über Google gut auffindbar sein und die Kosten senken, etwa indem er Tools nutzt, um Standardverträge zu erstellen wie ein Testament oder eine Gesellschaftsgründung. „Wenn eine Internetplattform die juristische Betreuung eines Verkehrsunfalls für 20 Euro anbietet und der Anwalt für 500 Euro – wenn überhaupt mit Festpreis, dann ist doch klar, wo der Mandant der Zukunft hingeht.“
Anwälte aus Fleisch und Blut werden immer an Entscheidungsknotenpunkten aktiv. – Tobias Stopp
Tobias Stopp ist einer, der den Verkehrsunfall sogar kostenlos anbietet. Seine Internetplattform Unfallfuchs.de ist seit Ende 2015 am Markt und bearbeitet nach eigenen Angaben jährlich 5.000 bis 6.000 Schadensfälle. Die Digitalisierung der Branche hat innerhalb weniger Jahre eine ganze Reihe solcher Angebote hervorgebracht: Flightright.de kümmert sich um Flugverspätungen, Geblitzt.de um Bußgeldbescheide, Hartz4widerspruch.de um ALG-II-Bescheide, Myright.de um manipulierte Dieselfahrzeuge, Zug-erstattung.de um Bahnverspätungen und Bankright.de um fehlerhafte Immobilienkreditverträge – um nur einige zu nennen. Das System läuft meist so: Der Nutzer gibt die Daten seines Falles ein, das System überprüft automatisch, ob die Durchsetzung Erfolg verspricht. Der Kunde zahlt entweder nur im Erfolgsfall eine feste Pauschale oder einen Anteil der Entschädigung, manchmal auch eine geringe Servicegebühr oder eben nichts, wie bei Unfallfuchs.de, weil die gegnerische Versicherung die Anwaltskosten übernehmen muss.
Algorithmen als virtuelle Richter?
„In Deutschland werden doch bislang rund 70 Prozent aller Rechtsansprüche nicht durchgesetzt. Solche Angebote lassen selbst kostenbewusste oder risikoscheue Menschen aktiv werden und schaffen so neue Betätigungsfelder für Rechtsanwälte“, glaubt Leverton-Chef Bues. Auch bei Unfallfuchs.de arbeiten noch Anwälte im Hintergrund, betont Gründer Stopp. „Sie werden immer an Entscheidungsknotenpunkten aktiv und zum Beispiel am Anfang, um genau zu eruieren, wie sich ein Unfall zugetragen hat.“ Die Firma lizenziert ihre „Schaden.digital“-Software auch an Kanzleien und nimmt Autowerkstätten das Forderungsmanagement gegenüber Versicherungen ab. Das Kundenportal Unfallfuchs.de finanziert sich über eine „Datenübermittlungspauschale“ – im Laiendeutsch: Provision – von den Anwaltskanzleien, an die sie Mandanten vermitteln. Denn sobald ein Fall vor Gericht geht, muss sich der Mandant noch einen Anwalt aus Fleisch und Blut nehmen, das schreibt das Gesetz vor. „Wir bearbeiten ein überschaubares Rechtsgebiet, in dem die Regeln nicht jede Woche neu geschrieben werden – deshalb funktioniert unser Konzept“, erklärt der Betriebswirtschaftler Stopp die Hauptregel der Legal-Tech-Start-ups.
An Orten, wo Strategie und Taktik gefragt sind, wird es menschlich bleiben (Bild: iStock.com/Chris Ryan)
Hat die Branche den Ernst der Lage erkannt? Zumindest ist das Interesse sehr groß, zu kaum einem anderen Thema werden zurzeit mehr Fortbildungen angeboten, auch der Deutsche Anwaltstag stand in diesem Jahr unter dem Motto Legal Tech. Aber ebenso groß scheint die Unsicherheit. „Alle wollen wissen: Was bedeutet das für mich? Was muss ich tun? Aber Digitalisierung ist ein langer und teilweise mühsamer Weg. Es ist ja nicht damit getan, zehn neue Softwareprogramme zu installieren“, resümiert Micha-Manuel Bues.
Wo die Grenzen der Entwicklung liegen, vermag noch kaum jemand zu sagen. „Dass Anwaltsarbeit grundsätzlich nicht durch Technologie ersetzt werden kann, ist jedenfalls ein Märchen“, ist sich der studierte Historiker Tobias Heining von CMS sicher. „Was technisch möglich und im Sinne der Mandanten ist, wird früher oder später gemacht. Das ist nur eine Frage der Zeit, der Regulatorien und des finanziellen Einsatzes.“ Micha-Manuel Bues von Leverton sieht immerhin die ein oder andere rote Linie: „Wenn ich eine Familienrechtssache habe, will ich die keinem Chatbot erzählen. Auch Richter wird es noch lange geben – eher aus ethischen Gründen. Wir wollen nicht von einem Roboter abgeurteilt werden, auch wenn der das könnte. Überall wo Strategie und Taktik nötig ist, wird es menschlich bleiben. Bei einem Gang vors Gericht sind immer auch Erfahrungswerte nötig.“ Juristen werden jedenfalls nicht alle programmieren lernen müssen, aber die Arbeitsweise von Algorithmen verstehen und mit Programmierern sprechen, das gehört künftig zum guten Ton.
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