München ist einer der wichtigsten IT-Standorte Europas. Eine Gruppe von Konzernen, Politikern und Tech-Experten will mehr: Ein Verein soll mehr Vernetzung und kreativen Austausch stiften, um die Stadt zu einem global führenden Tech Hub zu machen. Mit Erfolg?
Wo, wenn nicht hier? Claudia Linnhoff-Popien zweifelt nicht daran, dass in und um München gerade eine Art Silicon Valley entsteht. „Alle nötigen Ressourcen sind da: Stadt und Umland bilden mehreren Studien und Rankings zufolge den wichtigsten IT-Standort in Europa “, argumentiert sie. In München arbeiten etwas mehr als 140.000 Fachkräfte in der Informations- und Kommunikationstechnik und Arbeitgeber können auf rund 360.000 MINT-Fachkräfte und viele technische Bildungs- und Forschungsinstitute zurückgreifen – deutlich mehr als in anderen Städten.
Bekannte Namen sind das zweite Argument der IT-Professorin, die als Vorständin des Vereins „Digitale Stadt München“ dafür sorgen will, dass die Münchener Region in einem Atemzug mit den großen Tech-Zentren der Welt genannt wird. „Google, IBM, Microsoft, Fujitsu, Apple, Intel, Cisco, Salesforce und wie sie alle heißen“, zählt sie auf. „Nahezu alle großen internationalen IT- und Software-Konzerne sind hier.“ Zudem viele mittelständische Softwareunternehmen und Digital-Startups sowie deutsche Platzhirsche verschiedener Branchen wie Allianz, Munich RE, Siemens, BMW, MAN, Bosch, Sixt und Burda.
Es fehlen noch Berührungspunkte, bei denen die Entscheider und kreativen Köpfe persönlich aufeinandertreffen.
Konservativer Wirtschaftsstandort oder dynamisches Isar Valley?
Aber wenn alle schon da sind – wieso gilt München bislang eher als sicherer und konservativer Wirtschaftsstandort denn als dynamische und kreative Ideenschmiede? Wo bleiben die großen, disruptiven Innovationen und Geschäftsmodelle für die Digitale Transformation made in Munich? „Es fehlen noch Berührungspunkte – Orte, Gelegenheiten und motivierende Anlässe, bei denen die Entscheider und kreativen Köpfe persönlich aufeinandertreffen“, sagt Linnhoff-Popien. Zwar sind die Wege zwischen Unternehmen, Politik und Wissenschaft in München relativ kurz. „Aber wir sind dennoch weit entfernt von einer Dynamik und Kultur wie im Silicon Valley .“
In der kalifornischen Region treffen Unternehmer, Startup-Gründer, politische Entscheider, Forscher und Tech-Koryphäen wie selbstverständlich bei vielen Anlässen aufeinander. „Dabei ergeben sich gemeinsame Ideen, Projekte und Pitches.“ Zwar sei im Silicon Valley das Konkurrenzdenken extrem stark ausgeprägt. „Aber es gibt eben auch eine Kultur des Give and Take und Neugier auf neue Möglichkeiten: Wenn es um eine wirklich gute Idee geht, hilft man sich gegenseitig, diese Wirklichkeit werden zu lassen.“ Und sei es auch nur, damit nicht ein anderer schneller ist.
Eine solche Atmosphäre der Offenheit, des Wettbewerbs und mehr Lust am gemeinsamen Experimentieren soll mit Hilfe des Vereins „Digitale Stadt“ in München entstehen, der als Moderator, Koordinator und Katalysator auftritt. 2016 startete er mit zunächst 17 Gründungspartnern aus Wirtschaft und Wissenschaft, heute hat er 119 Mitglieder. „Ein Ziel ist, konkrete Digitalisierungsprojekte in der Stadt und in den Unternehmen anzustoßen“, fasst Linnhoff-Popien zusammen. „Unser Vorbild ist nicht nur das Silicon Valley, sondern auch Smart Cities wie Dubai und Singapur , die auf dem Weg sind, neue Standards als städtische Wirtschafts- und Innovationszentren mit globalem Einfluss zu setzen.“
Networking im Isar Valley
Um das zu erreichen, hat der Verein im ersten Schritt Veranstaltungen initiiert, die sich an Unternehmen, Gründer, Wissenschaftler und politische Entscheider richten: Zum Beispiel die jährliche Konferenz „Digicon“, die seit 2016 stattfindet. Oder das Veranstaltungsformat „Digi-Talk“, bei dem Vereinsmitglieder alle sechs Wochen zu kleineren Themenabenden einladen. „Da öffnen Unternehmen wie Google, die Deutsche Bank oder der Münchener Flughafen ihre Tore für Podiumsdiskussionen und für gezieltes Networking.“ Aus diesen Treffen seien in den vergangenen beiden Jahren mehrere Großaufträge und gemeinsame Projekte der Vereinsmitglieder hervorgegangen, deutet Linnhoff-Popien an. Welche genau, das möchte sie nicht sagen – Verschwiegenheitsklauseln schützen die Mitglieder vor Ideenklau. „Wenn solche bilateralen Projekte entstehen, klinken sich die Vereinsmitglieder für die Umsetzung aus juristischen Gründen aus den Vereinsstrukturen aus“, erklärt sie. „Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Unternehmen und Experten bis zu diesem Punkt zusammenzubringen und sie dabei zu unterstützen, gemeinsam Ideen zu entwickeln – die konkrete Umsetzung und Wertschöpfung findet dann jeweils direkt in den Unternehmen statt.“
Damit möglichst viele solcher Vorhaben Realität werden, finden sich Vereinsmitglieder in thematischen Arbeitsgruppen zu Themenkomplexen wie „Smart City“, „Sicherheit“ und „Personal“ zusammen. „Aus der Smart-City-Arbeitsgruppe ist zum Beispiel ein Projekt hervorgegangen, bei dem die Stadtwerke München mit der Universität München gemeinsam Künstliche Intelligenz einsetzen, um Probleme in der Wasserversorgung schneller zu entdecken“, berichtet Linnhoff-Popien. Über dieses Projekt darf sie sprechen, ihr eigenes Team an der Universität München ist daran beteiligt.
Der Hintergrund: Die Wasserrohre im 700 km langen Münchener Wassernetz sind teils mehr als hundert Jahre alt. Lecks werden oft erst spät gefunden, Wasser versickert ungenutzt. Bislang müssen speziell geschulte Experten mit Stethoskopen in die unterirdischen Rohrsysteme hinabsteigen und versuchen, anhand der Fließgeräusche des Wassers leckende Stellen zu identifizieren. „Wir verbauen nun gerade Sensoren an kritischen Stellen der Leitungssysteme, die Fließgeräusche des Wassers aufnehmen und in Echtzeit an unsere Server übertragen“, erklärt Linnhoff-Popien. Mit diesen Aufnahmen wird derzeit eine Künstliche Intelligenz trainiert, die dann bald Probleme in den Wasserleitungen automatisiert erkennen soll – schon bevor es zu einem Leck kommt.
Bisher mussten Experten vor Ort Schwachstellen an Wasserrohren ausfindig machen; dank künstlicher Intelligenz ist das bald nicht mehr nötig. (Bild: iStock/Firmafotografen)
Vernetzen, nicht verkaufen
Anfangs, als der Verein gegründet wurde, herrschte durchaus Skepsis bei manchen Unternehmen: „Zu Digitalisierungsthemen gibt es ein wahnsinnig großes Angebot an Konferenzen, Veranstaltungen und Workshops, und meist will dabei irgendwer den Unternehmen eine Dienstleistung oder ein Produkt verkaufen“, sagt Linnhoff-Popien. Sie musste Überzeugungsarbeit leisten. „Geholfen hat uns dabei zum einen, dass wir schon zu Beginn namhafte Unternehmen mit an Bord hatten und auch von Seiten der Stadt München unterstützt wurden“, erinnert sie sich. „Zum anderen war und ist bis heute wichtig, dass ich nicht Vertreterin eines Unternehmens bin, sondern von der Forschungs- und Hochschulseite komme.“ Dadurch sei klar, dass es dem Verein selbst nicht um eigene wirtschaftliche Interessen gehe, sondern tatsächlich um die Vernetzung und Stärkung des Standortes.
In der Tat hat der Verein nicht das Ziel, Gewinne zu erwirtschaften, er soll aufwandsneutral arbeiten. Mitglieder zahlen je nach Unternehmensgröße einen Mitgliedsbeitrag zwischen 600 und 2.600 Euro jährlich. Sie können Patenschaften für Projekte zu Digitalisierungsthemen an Schulen und Hochschulen übernehmen und sollen sich darüber hinaus vor allem mit eigenen Workshops und Projekten und durch Teilnahme an den Events des Vereins einbringen. „Wenn wir als Verein zu einem Workshop oder einer Veranstaltung einladen, wissen alle: Da geht es um die Sache, das ist keine Verkaufsveranstaltung, bei der irgendein Berater oder IT-Dienstleister seine neuesten Angebote unter die Leute bringen will“, betont Linnhoff-Popien. Dadurch entstehe eine offene Atmosphäre.
Drei Jahre nach der Gründung zeigen die neuen Netzwerk-Strukturen Wirkung, sagt Linnhoff-Popien. „Wir haben mit der LMU dieses Jahr ein Projekt gewonnen, bei dem wir neue Einsatzmöglichkeiten für Künstliche Intelligenz erforschen werden“, berichtet die Wissenschaftlerin. „Über den Verein haben wir in die Runde gefragt: Wie können wir das Projekt noch größer machen, so dass möglichst viele Akteure in der Stadt davon profitieren und sich einbringen können?“ Innerhalb von zwei Wochen sei ein Workshop mit 80 Unternehmern und Entscheidern zustande gekommen. Klingt so, als nehme das „Isar Valley“ tatsächlich langsam Gestalt an.
Beitragsbild: iStock/jotily