Der Wissenschaftler, Nachhaltigkeits-Experte und Autor Tilman Santarius setzt sich für eine sanfte, entschleunigte Digitalisierung ein, die Ökonomie, Ökologie und Soziales miteinander versöhnt. Was genau meint er damit und wie realistisch ist das?
Wie kann die Digitalisierung unsere Gesellschaft sozial und ökologisch nachhaltiger machen? Eine sehr allgemeine erste Antwort lautet: Wir müssen die Digitalisierung entschleunigen und sie sanfter gestalten. Es gibt keine schnellen, disruptiven Lösungen für die differenzierten und komplexen Herausforderungen der modernen Welt. Es gibt auch keine „Killer-Applikation“, mit der sich die Probleme der Menschheit im Alleingang lösen lassen. Das ist Wunschdenken – oder wahlweise Propaganda. Wir sollten die Aspekte der Digitalisierung bremsen, die schädlich für uns sind, und jene fördern, die einen wirklichen Mehrwert für Gerechtigkeit, Ökologie und Soziales leisten.
Niemand will eine Digitalisierung, die gedankenlos immer mehr Energie und Ressourcen verbraucht, um einseitig den Konsum zu befeuern. Die den politischen Diskurs radikalisiert, anstatt für den fairen Wettbewerb von Ideen und Argumenten zu sorgen. Die das riesige soziale Gefälle auf diesem Planeten aufrechterhält. Die dafür sorgt, dass gewaltige Akkumulationen von Marktanteilen, Profit und Macht in den Händen weniger erfolgen, während an anderer Stelle großflächig Arbeitsplätze verschwinden und der Sozialstaat bröckelt.
Nachhaltige Digitalisierung: Den Energiehunger zähmen
Beginnen wir mit der Ökologie. Geschätzt fast drei Milliarden Menschen sind online, Tendenz steigend. Weltweit verbrauchen das Internet und der Betrieb von Smartphones, Tablets, Laptops und Serverfarmen rund zehn Prozent des erzeugten Stroms, in Deutschland sind es etwa acht Prozent. Die Energie, die für die Produktion der ca. sieben Milliarden zwischen 2007 und 2017 verkauften Smartphones aufgewendet wurde, entspricht der jährlichen Stromnachfrage von Schweden oder Polen. Und die Energieintensität unserer Hardware nimmt weiter zu, weil zum Beispiel Smartphones immer leistungsfähiger werden und mehr Strom verbrauchen.
In dieser Situation auf mehr Effizienz zu vertrauen oder darauf, dass der Markt es schon richten wird, ist sträflich naiv. Wir wissen längst, dass ein blinder, ungezügelter Markt massive ökologische und soziale Verwerfungen nach sich zieht. Und wir wissen auch um den so genannten Rebound-Effekt : Am Ende machen Effizienzfortschritte, die wir durch eine smarte Technologie erzielen, den stetig steigenden Energieverbrauch, der durch immer mehr Hardware und Nutzer entsteht, nicht wett. Da wir als Gesellschaft die fossile Energiebasis aber zügig abschalten und komplett auf erneuerbare Energien wechseln sollten, sind jegliche Mehrverbräuche vor allem in den reichen Industrieländern, kontraproduktiv. Sie erschweren es, die Klimaziele zu erreichen.
Wir müssen die Stromverbräuche rund ums Internet aktiv bremsen und zum Beispiel Hardwarehersteller mittels Richtlinien und Gesetze darauf verpflichten, ihren ökologischen Beitrag zu leisten. Ein kleiner Lichtblick: Google ist das erste große Tech-Unternehmen, das laut eigenen Angaben seit 2017 versucht, seine Rechenzentren zu 100 Prozent mit erneuerbarem Strom zu versorgen. Das ist begrüßenswert, aber es ist trotzdem nur ein Anfang.
Europa muss beim Thema Nachhaltigkeit vorangehen
Manchmal werde ich gefragt, was es denn bringen soll, wenn wir in Deutschland und der EU vorangehen, Länder wie die USA oder China aber nichts oder viel weniger tun. Ob es nicht kontraproduktiv ist, weil es unsere Unternehmen benachteiligt. Ich höre diese Fragen und entsprechende Scheinargumente seit 30 Jahren. Die Amerikaner führen sie seit zwei Jahrzehnten ins Feld, um sich vor der Umsetzung internationaler Klimavereinbarungen in nationales Recht zu drücken. Dabei wissen wir längst, wie produktiv einerseits Richtlinien und andererseits gezielte Förderungen sein können. Wie sonst hätte sich zum Beispiel die Solarenergie global so schnell und erfolgreich als günstige Energiequelle etablieren können?
Zweitens sollten wir das politische Gewicht der EU nicht unterschätzen. Wenn wir Standards für Rechenzentren, Energieverbrauchskennzeichnungen für Hardware oder Designrichtlinien für die Kommunikations- und Informationstechnologie festschreiben, wirkt sich das global aus. Seien wir selbstbewusst: Die Marktmacht der EU ist groß, entsprechende Beschlüsse und Maßnahmen werden selbstverständlich auch in Nordamerika und Asien gehört, wobei – aber das nur nebenbei – insbesondere die politische Führung in Peking längst verstanden hat, wie elementar Klimaschutz ist.
Ich weiß, all das braucht Zeit. Aber ich registriere eine wachsende Sensibilität und Dynamik, ausgelöst vor allem durch die Klimadebatte und die Fridays for Future-Bewegung. Material- und Ressourcen-Verbräuche im Kontext der Digitalisierung gelangen nun auf die politische Agenda . Ein Beispiel: Deutschland hat in Kooperation mit der Generaldirektion Umwelt und der Generaldirektion Netzwerke in Brüssel einen Prozess begonnen, das Thema „Digitalisierung und Umwelt“ für die neue EU-Kommission auf die Agenda zu setzen. Es ist endlich kein Nischenthema mehr.
Nicht alles, was machbar ist, ist sinnvoll und nachhaltig
Die Digitalisierung an sich ist blind. Wenn wir sie an neuralgischen Punkten nicht in eine sinnvolle Richtung steuern, steuert sie uns. Stichwort Mobilität: Prinzipiell bietet uns die Digitalisierung tolle Möglichkeiten, den Verkehr so zu organisieren, dass er klüger, emissionsärmer, leiser und entspannter ist. Ein negatives Beispiel: „Free Floating Elektroroller“ , wie man sie derzeit auch in vielen deutschen Städten sehen kann. Ich kann hier kein transformatives Potential erkennen. Zu einer Verkehrswende tragen sie nicht bei, weil sie keinen gefahrenen Straßenkilometer mit dem Auto ersetzen und die CO2-Emissionen oder sonstige Nachteile des Verkehrs nicht gemindert werden. Sie sind eben nicht in eine Gesamtstrategie für eine sanfte Verkehrswende integriert, sondern fungieren als unnötiges Add-on.
Auch dem selbstfahrenden Auto gegenüber (so es denn jemals Wirklichkeit wird), bin ich skeptisch eingestellt. Unmengen an Hardware sind dafür nötig, die Datenströme sind riesig – ein einzelner Pkw kann pro Tag 4.000 Gigabyte an Daten generieren, die alle berechnet und über das Netz geleitet werden müssen. Kurzum: Es verbraucht viele Ressourcen und Energie. In der Nische – etwa in sehr dünn besiedelten, ländlichen Regionen – mag es möglicherweise eine positive Funktion haben, um Menschen von A nach B zu bringen. Aber in der Breite in Städten nicht. Die Digitalisierung sollte uns stattdessen helfen, den ÖPNV attraktiver zu machen und die verschiedenen Verkehrsträger schlau zu vernetzen. S-Bahn, Leihfahrrad und nachts für die letzte Meile meinetwegen ebenfalls hier und dort einen Elektroroller. Aber koordiniert, geplant und mit Sinn und Verstand.
Eine Postwachstumsgesellschaft ist möglich
Ich wünsche mir eine Digitalisierungs-Politik, die auf Dezentralisierung und Dematerialisierung setzt. Dafür brauchen wir eine Postwachstumsagenda. Um das hier sehr klar zu machen: Postwachstum ist und darf nicht gleichbedeutend sein mit Rezession. Das wäre der völlig falsche Weg. In einer Rezession sinken zwar die Emissionen, aber die ökonomischen und sozialen Kollateralschäden sind enorm und alles andere als wünschenswert, siehe Bankenkrise.
Postwachstum heißt für mich, dass wir einen Übergang von einer konsumorientierten zu einer wissensbasierten und sharing-zentrierten Wirtschaft gestalten. Dazu benötigen wir neue, nachhaltige Geschäftsmodelle, die ohne einen ständigen Expansions- und Mehrverbrauchsdruck auskommen. Neue Modelle und Instrumente also, die nicht zu einer einseitigen Konzentration von Markmacht und Profit führen. Gute Ansätze gibt es, etwa im Energie- und im Nahrungsmittelsektor oder auch im Bereich der Open-Source Software. Die Digitalisierung kann helfen, dezentrale, nachbarschaftliche Energiesysteme zu betreiben, sogenannte Micro Grids, die auf erneuerbare Quellen zurückgreifen. Auch ein flächendeckender Ausbau des „Food Sharing“ ist denkbar, bei dem Supermärkte abgelaufene, aber noch gut konsumierbare Lebensmittel an „Food Saver“ abgeben, die sie dann verteilen. Kommunale Vernetzungs- und Tauschbörsen wiederum können eine Re-Regionalisierung von Teilen der Wirtschaft befördern. All diese auf Kollaboration basierende Ausprägungen sind sinnvoll.
Spätestens hier wird deutlich, wie sehr die soziale Frage und die Digitalisierung zusammenhängen. Wer profitiert von ihr, wer wird mitgenommen? Wie demokratisch ist die Produktionsseite? Wie sichern wir einen gesunden Wettbewerb? Und was machen wir mit jenen, die aufgrund von KI und der zunehmenden Automatisierung ihren Arbeitsplatz verlieren oder die nicht mehr mitkommen, weil ihnen das Wissen oder die Fähigkeiten fehlen? Brauchen wir ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 32 oder 26 Stunden, um sie aufzufangen, so dass auch weiterhin weite Teile der Gesellschaft an den Chancen der Erwerbsarbeit teilhaben können? Diese Debatte ist endlich offener und entschlossener zu führen, denn die Früchte des digitalen Fortschritts müssen fair und gerecht verteilt werden.
Beitragsbild: istock/serts